Was ist Neuroplastizität? Und was hat das mit Logopädie zu tun?
Aug Dina Roos
Immer wieder kommt in Zusammenhang mit Logopädie der Begriff Neuroplastizität auf. Aber was ist eigentlich Neuroplastizität?
Neuroplastizität beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, ich im Lauf des Lebens auf Veränderungen und neue Erfahrungen einzustellen. Unser Gehirn kann neu lernen. Das heißt, unser Gehirn baut bis ins hohe Alter Nervengewebe neu auf. Abhängig von dem, was wir tun und denken, wird Nervengewebe neu vernetzt.
Als ich vor mehr als 25 Jahren zur Logopädin ausgebildet wurde, haben wir noch ‚gelernt‘: Unser Gehirn wird bis zum rosigen Alter von ca. 25 immer schlauer, und dann geht es bergab. Heute wissen wir: Zum Glück stimmt das nicht. Wir haben auch ‚gelernt‘: Funktionen, die nicht innerhalb weniger Monate zurückgewonnen wurden, bleiben verloren. Zum Glück ist auch das falsch.
Ich habe (nach dem Alter von 25 Jahren) gelernt und immer wieder mit meinen Patientinnen und Patienten erlebt, dass das Gehirn zu Faszinierendem in der Lage ist – wenn wir es entsprechend stimulieren.
Welche Konsequenz hat das für Sie?
Wenn Sie mit uns arbeiten, dann ist unser Ziel nicht nur, mehr Muskelfasern aufzubauen. Wir arbeiten hin auf eine verbesserte Neuroplastizität.
=> Funktionen, die früher von Hirnarealen gesteuert wurden, die heute nicht mehr oder nur noch reduziert arbeiten, können von anderen Hirnarealen übernommen werden (z.B. nach Schlaganfall, Hirnblutungen oder Hirntumor).
=> Hirnareale, die aufgrund geringerer Verwendung weniger aktive Nervenzellen aufweisen, können reaktiviert werden (z.B. haben MRT-Aufnahmen bei Menschen mit Parkinson gezeigt, dass Hirnareale, die für automatisiertes Sprechen verantwortlich sind, nach LSVT LOUD® wieder aktiver arbeiten).
=> ein atypisches Schluckmuster, das zu kieferorthopädischen Problemen führen kann oder eine falsche Verwendung der Stimmmuskulatur, die zu Heiserkeit führen kann, sind Beispiele für ein falsch ‚erlerntes‘ Verhalten. Aber erlerntes Verhalten kann umgelernt werden.
=> Nervengewebe, das beschädigt wurde (z.B. durch Tumoroperationen oder Unfälle) ist wieder zusammengewachsen. Entsprechend haben sich z.B. Schluckstörungen, Sprachstörungen und Gesichtslähmungen verbessert.
Wie beeinflussen Sie mit therapeutischer Hilfe Ihre Neuroplastizität?
Was Sie dafür brauchen, ist intensives Training. Intensiv heißt in vielen Fällen Training mit vielen Wiederholungen und hoher Anstrengung. (Bitte klären Sie jedoch mit Ihrer Ärztin / Ihrem Arzt oder mit Ihrer Therapeutin / Ihrem Therapeuten, ob bei Ihrer Diagnose anstrengendes Training sinnvoll ist. Es gibt wenige Ausnahmen.)
Wenn Sie sich fragen, warum Sie zusätzlich zur eigentlichen logopädischen Behandlung auch noch zu Hause trainieren sollen, dann finden Sie die Antwort genau hier.
Für eine bessere Neuroplastizität brauchen Sie viele Wiederholungen. Trainieren Sie nicht nur so lange, bis Sie es auf Aufforderung richtig machen können. Unser gemeinsames Ziel ist, dass Sie so lange trainieren, bis Sie es nicht mehr falsch machen können.
Die Prinzipien der Neuroplastizität sind übertragbar auf nahezu alles, was wir in unserem Leben tun. Es ist nicht nur das Gehirn, das unsere ausführenden Muskeln und Gedanken steuert. Ganz genauso beeinflusst das, was wir tun und denken auch die Plastizität unseres Gehirns.
Wenn Sie also die Übungen, die wir Ihnen als häusliches Training aufgeben, regelmäßig durchführen, beeinflussen Sie Ihre Neuroplastizität und damit die Fähigkeit Ihres Gehirns, Funktionen wieder gesünder zu steuern.